Hot Italian: Marzocchi 350NCR im Test
Die Partnerwahl kann mitunter eine absolut irrationale Entscheidung sein. Man sieht jemanden und ohne ihn oder sie zu kennen, besteht ein ungeheures Interesse, aus welchem sich eine Spannung fernab jeder logischen Erklärung entwickelt. In ähnlicher Form hat mich die Ankündigung der Marzocchi 350NCR im vergangenen Jahr getroffen. Ohne jemals zuvor eine Marzocchi über die Trails gejagt zu haben, hat mich diese Gabel mehr als alle anderen relevanten Gabeln im Endurobereich fasziniert und interessiert. Der Besuch auf der Eurobike hat diese Neugier schließlich noch weiter gesteigert. Umso besser, dass ich nun in Anschluss an unseren „Gabelsalat“ die Möglichkeit hatte, mich einmal intensiver mit der schönen Italienerin auseinanderzusetzen. Mein Ziel soll dabei nicht weniger sein, als ein möglichst präzises Bild der Gabel zu zeichnen, was Optik, Einstellungsmöglichkeiten und Performance betrifft. Ebenso möchte ich sie jedoch auch in die Reihen der anderen Gabel-Testkandidaten einreihen, um eine Vergleichbarkeit zu erreichen.
Etwas für die Augen – die Optik
Das erste Kennenlernen fand im romantischen Holzpavillion in Schwiegermuttis Garten statt, um für die Dame eine würdige Atmosphäre zu schaffen. Die Heißblüterin zeigte mir sogleich ihre beneidenswerten optischen Vorzüge. Ein in meinen Augen formvollendetes Casting mit eleganter und zugleich zweckmäßiger Brücke zwischen den Tauchrohren. Wo andere Hersteller leider künstliche Schmutzfänger schaffen um Material und somit Gewicht zu sparen, ziert die Marzocchi an gleicher Stelle lediglich ein schmaler, ovaler Bügel. Wunderschön.
Auch die nach oben hin etwas kantig auslaufenden Tauchrohre liegen bei mir optisch ganz weit vorn. Das „Espresso Coating“ ist sicherlich Geschmackssache. Für mich bildet es eine gute ästhetische Symbiose mit dem Kashima-Coating des Fox Dämpfers im Hinterbau meines Rades. Mit dem goldgelben Einstellrädchen für die Low-Speed-Compression an der Gabelkrone bringen die Italiener eine weitere Farbe ins Designkonzept mit ein. In meinen Augen ein Farbtupfer zu viel beim sonst gelungenen Gesamtkonzept. Das Design der Gabelkrone fällt bei all den bisherigen optischen Schmankerln vergleichsweise einfach aus.
Etwas für die Finger – Einstellungsmöglichkeiten
Die 350NCR macht einiges anders als die namenhaften Konkurrenten, damit allerdings nicht automatisch alles besser. Der Luftdruck wird für mich ungewohnter Weise auf der in Fahrtrichtung rechten Seite der Gabel über ein Schraderventil an der Gabelkrone eingestellt. Leider findet sich weder ein Gummiring am Standrohr als Hilfsmittel zur Bestimmung des SAG, noch eine Luftdrucktabelle am Casting. Allerdings kann man sich über einen QR Code am Casting direkt auf die Marzocchi-Homepage inkl. Handbuch und Luftdrucktabelle leiten lassen. Willkommen in der schönen neuen digitalen Welt! Die Einstellung für die Druckstufe befindet sich an der in Fahrtrichtung linken Seite der Gabelkrone. Von dort aus führt ein Bowdenzug zum Remotehebel, mit dem die Druckstufe verhärtet werden kann. Der Hebel besitzt eine angenehme ergonomische Form und eine sinnvolle Kabelführung mit 90° Knick, ähnlich der Führung bei den Specialized Command Post Sattelstützen.
Die Low-Speed-Compression lässt sich manuell über ein Rädchen an der Gabelkrone verstellen. 27 Klicks stehen hier insgesamt für das Feintuning zur Verfügung. Positiv hierbei: Ich kann sowohl jeden Klick einzeln und mit etwas Gefühl definiert verändern, kann allerdings ebenso mit etwas Schwung und 2-3 Anläufen das komplette Pensum der Low-Speed-Druckstufe durchrattern. Ob das sinnvoll ist sei mal dahingestellt, vielleicht bei sich schnell und stark verändernden Bedingungen auf dem Trail, aber Spaß macht es allemal. Der Widerstand des Rädchens fällt allerdings vergleichsweise gering aus, sodass die Präzision bei der Einstellung etwas darunter leidet. Allerdings ist diese Einstellung, wie schon angedeutet, mit etwas Gefühl auch präzise möglich.
Zusätzlich lässt sich der Rebound an der Unterseite des Castings (ebenfalls links) in einer Abstufung von 22 Klicks verstellen. Dies funktioniert wie auch bei den anderen Gabeln dieser Konkurrenzklasse über ein stabiles Rädchen mit merklichem Widerstand und wohl definierten Klick-Geräuschen bei jeder Einstellung. Die 160 mm Federweg können über interne Spacer auf 150mm oder 140mm getravelt werden.
Etwas für das Herz – Die Performance
Nach dem Einbau blieb der erhoffte Aha-Effekt in Punkto Losbrechmoment und Ansprechverhalten leider aus. Zwar reagierte die Marzocchi gut auf Druck von oben, aber nachdem ich von der 36er Fox und der Rock Shox Pike verwöhnt in den Test ging, musste die 350NCR nun erstmal weiter von ihren optischen Vorschusslorbeeren zehren. Allerdings muss ich an dieser Stelle auch gestehen, dass es die Marzocchi wesentlich schwerer hatte, als die Gabeln zuvor. Wie aus logistischen Gründen manchmal leider einfach nicht anders möglich, konnte ich die 350NCR nur ein paar Wochen im Januar und Februar fahren. Bei den vorherrschenden Temperaturen ist die Motivation eine andere als bei 30° im Schatten und Sommerhochgefühlen. Zumal auch die weiteren Rahmenbedingungen alles andere als optimal sind. Zwar machen auch Schnee- und Eissessions durchaus Spaß, aber es ist doch ein anderes Radfahren und die Anforderungen an Mensch und Material sind ebenso andere. Nichtsdestotrotz wollte ich aus der Gabel rauskitzeln, was zu den aktuellen Gegebenheiten eben möglich war. Also ab auf die Trails für ein erstes Feintuning.
Hier überraschte mich die Gabel positiv, da ich sehr wenig nachjustieren musste, um ein gutes Setup zu erreichen. Auch die Kombination mit dem Fox RP23 am Heck war von Beginn an stimmig. Ich startete mit 70 psi bei 74 kg Fahrergewicht, wobei ich damit knapp 25% SAG erreichte. Dazu kamen 14 Klicks bei der Low-Speed-Druckstufe (von Soft) und 13 Klicks beim Rebound (beginnend bei der Springteufeleinstellung). Damit huschte ich über die ersten flachen Trails und erreichte ein gutes Ansprechverhalten, mit insgesamt einem jedoch eher straffen Fahrwerk. Für das etwas gröbere Geläuf wichen nochmal 10 psi. Dieser Luftdruck lies in etwa 30% SAG zu. Während ich den Rebound nicht weiter veränderte, gab ich der Low-Speed-Druckstufe nur noch 6 Klicks von Soft und stürzte mich so den Berg herunter. Obwohl ich für meine Verhältnisse mit viel SAG unterwegs war, stand die Gabel gut im Federweg. Zudem überzeugte sie mit Stabilität in Anliegern und in Sprüngen. Wenn nötig erhielt ich trotzdem die nötige Dämpfung. So bügelte die Gabel auch im Winterwunderland weg, was ihr vorgesetzt wurde. Und all das ohne Durchschläge, trotz des geringen Drucks und ohne Wegsacken beim Bremsen. Das macht Spaß!
Vergleich zur Fox 36 RC2 und Rock Shox Pike RCT3
Für sich genommen ist die Marzocchi 350NCR definitiv eine wertige Gabel, mit ansprechendem Design, guten Einstellmöglichkeiten und einer überzeugenden Gesamtperformance. Doch wo steht sie im Verhältnis zu den anderen bereits getesteten Gabeln?
Beim Design gehen die Meinungen sicher auseinander. Das Retrodesign und das Kashima Coating der 36er Fox wird seine Fans haben, ebenso wie das schlichte Schwarz der Pike oder eben das Espresso-Coating der Marzocchi. Mich persönlich spricht das Design der Italienern allerdings am Ehesten an, nicht zuletzt durch den wertigen und ästhetischen Gesamteindruck des Gabelcastings mit der sehr ansehnlichen und im Unterschied zu Fox und Rock Shox zweckmäßigen Gabelbrücke. Platz 1 beim Design!
In Punkto Einstellungen kommt die Marzocchi bei mir auf einen guten zweiten Platz hinter der Pike und vor der Fox. Die Fox bietet zwar das breiteste Einstellungsspektrum, die Einstellrädchen und die Haptik waren hier für mich persönlich allerdings nicht so überzeugend, wie bei den anderen Gabeln. Die Pike liegt hier immer noch klar vorn mit einer guten Haptik, Ergonomie und Bedienbarkeit aller Elemente. Die 350NCR lässt sich jedoch gar nicht weit abhängen und überzeugt mit einem guten Remotehebel, einer zweckmäßigen Einstellmöglichkeit für die Low-Speed-Compression und einer der Pike ebenbürdigen Einstellung des Rebounds.
Im Performancevergleich schafft es die Marzocchi in meinen Augen nicht ganz mit der Fox und der Pike mitzuhalten. Alle drei Gabeln besitzen zwar ein Ansprechverhalten und eine Performance auf sehr hohem Niveau, aber Kleinigkeiten machen hier eben den Unterschied. Die Sänfte von Fox bleibt über jeden Zweifel erhaben und ist in meinen Augen bei präziser Einstellung der Federelementekönig in dieser Kategorie. Die Pike zeichnet sich durch ein sensibles Ansprechverhalten aus, dass zwar auch bei Marzocchi auf hohem Niveau ist, allerdings nicht an die Pike rankommt. Hier also nur ein 3. Platz für die Italienerin. Ich kann allerdings nicht 100%ig ausschließen, dass ein Vergleichstest zu gleichen Bedingungen ein anderes Ergebnis hervorgebracht hätte. Denn die Winterbedingungen die ich der Marzocchi vorsetzen musste, können natürlich auch die Performance und mein Urteil beeinflussen.
In Bezug auf das Preis-Leistungs-Kriterium schafft es die Marzocchi auf Platz zwei. Mit einem aktuellen Strassenpreis von 809,-€ (bike-components.de) liegt sie auch hier wieder auf einem guten 2. Platz, hinter der Pike (599,-€) und vor der Fox ( 1099,-€ bzw. 1199,-€ mit TALAS-Funktion).
Fazit
Das Date mit der heißen Italienerin hat mir auf jeden Fall viel Freude bereitet. Es ist eine sehr ästhetische, wertige und gut ansprechende Gabel. Die Marzocchi ist über den Remotehebel und die weiteren Einstellrädchen gut abstimmbar und liefert eine sehr gute Performance. In unserem kurzen Wintertest, der zugegeben nicht ganz fair war, konnte sie in Punkto Ansprechverhalten jedoch nicht mit der 36er Fox und der Rock Shox Pike mithalten, auch wenn sie sich vor diesen beiden definitiv nicht verstecken muss. Gern würde ich die Gabel nochmal durch sommerliche Gefilde jagen um eine wirkliche Vergleichbarkeit zu haben. Bei meinem jetzigen Informationsstand kann ich nur sagen, dass die Gabel ihre Vorschusslorbeeren bei mir persönlich erfüllt hat, auch wenn sie die Konkurrenz nicht in Grund und Boden gefedert hat.
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